In Teil 1 dieser Artikelserie habe ich mich an drei Statements bekannter Persönlichkeiten gerieben, um unser Verständnis von Visionsarbeit zu beleuchten.
Vor diesem Hintergrund wird es jetzt auf einen Schlag ganz praktisch – ich stelle Ihnen die Methode “The Future, Backwards” vor. Sie wurde von Komplexitäts- und Storytelling-Experten bei Cognitive Edge ersonnen.
Das Ziel: Teams eine Möglichkeit zu geben, ihr gemeinsames Verständnis des Status quo, ihrer Hoffnungen und Befürchtungen sowie kritischer Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren zu teilen.
Es ist eine kompakte und effektive Basis für die Visionsarbeit – lesen sie im Folgenden, wie das geht.
Was man braucht
- Mehrere Workshop-Teams von ca. vier bis sechs Personen. Die Teams sollten möglichst unterschiedlich zusammengesetzt sein, z. B. eine Gruppe mit IT- und eine mit Produktmanagement-Fokus. Jedes Team erstellt ihr eigenes “Future Backwards”-Modell, um es hinterher vergleichen und kontrastieren zu können.
- Einen Moderator. Ab drei bis vier Teams kann es auch helfen, einen Ko-Moderator dazu zu nehmen.
- Einen Raum, in dem die Teams arbeiten können, ohne dass sie sich gegenseitig stören oder zwangsläufig voneinander abschauen.
- So viele Wandflächen, Moderationswände oder Tische wie Teams dabei sind. Die Flächen sollten breiter sein als hoch; wenn man zwei Moderationswände nebeneinander stellt, ist das für eine Untergruppe in der Regel ausreichend Platz.
- Sechseckige Haftnotizen in vier Farben, mit einem Durchmesser von zehn Zentimern von Ecke zu Ecke. Pro Team ca. 50 Haftnotizen in zwei der Farben (z. B. Gelb, Pink), 20 in einer der Farben (z. B. Grün) und fünf in einer Farbe (z. B. Orange). Diese sind in der richtigen Größe im Handel schwer zu bekommen, daher stelle ich sie mir aus 3M Meeting Notes und einer robusten Papierschneidemaschine selbst her – zwei Sechsecke pro 3M Meeting Note.
- Frische schwarze Marker für alle, mit einer Strichstärke von ca. ein bis zwei Millimetern
- Ausreichend Zeit: Gesamtdauer bei zwei Teams inklusive gegenseitiger Vorstellung: ca. 90 Minuten.
Wie es abläuft
In der folgenden Illustration sehen Sie ein schematisches Endergebnis:
- “Aktueller Zustand” (AZ, grün; im Englischen “Current State”):
Die Teilnehmer stimmen sich in ihrem Workshop-Team ab, wie sie den Status quo des Projektes, Produktes o. ä. sehen. Eine Idee pro Haftnotiz. Es gibt keine zentralen Schreiber, alle tragen bei. Hier entstehen nach und nach ca. 10 bis 20 grüne Haftnotizen, die als Cluster in die rechte Mitte der Arbeitsfläche gehängt werden. - Historie des “Aktuellen Zustands” (Schlüsselereignisse SE, gelb; im Englischen “Turning Points”):
Die Teilnehmer sammeln einzelne Schlüsselereignisse, die zum Aktuellen Zustand geführt haben. Das geschieht eins nach dem anderen, rückwärts, ausgehend vom Aktuellen Zustand. Es gibt nur eine Historie, auf die sich das Team einigt. Die Rückwärtsbewegung ist für die Teilnehmer zu Beginn gewöhnungsbedürftig. Damit die Geschichten nicht leichtfertig in alte Muster gepresst werden ist sie aber essenziell. Der Moderator sollte das gerade zu Beginn eng kontrollieren! - “Utopie” / Himmel (UT, magenta plus Beschriftung; im Englischen: “Heaven”):
Nun richten die Teams den Blick vom Status Quo auf die denkbar positivste Zukunft. Das kann und soll sogar unrealistisch sein! Einzelne Geschichten, die die Utopie ausmachen, werden von den Teams auf magentafarbene Haftnotizen geklebt, in den rechten oberen Bereich der Arbeitsfläche. Das sind typischerweise ca. 10 bis 20 Stück. Der Moderator sollte die Teilnehmer motivieren, wirklich positive Extreme zu beschreiben – das fällt Vielen aber schwer. - “Dystopie” / Hölle (DT, magenta plus Beschriftung):
Nach der Utopie wechseln die Teams ins Gegenteil. Hier geht es um den größten anzunehmenden Unfall, die schlimmstmögliche Zukunft, die nur vorstellbar ist. Auch hier entstehen ca. 10 bis 20 Geschichten, diese kommen in die rechte untere Ecke der Arbeitsfläche. Auch hier sollte der Moderator Acht geben, dass die Dystopie den Teilnehmern auch wirklich weh tut. Nur so lockt man wirklich interessante Geschichten hervor. - “Utopischer Zukunftspfad” / Himmelspad (mit orangenem Glückfall GF, im Englischen: “Turning Points backwards from Heaven”):
Wie schon bei der Historie des Aktuellen Zustands arbeiten die Teams nun von der Utopie zurück, bis ihre Kette fiktiver Schlüsselereignisse an ein Ereignis der reale Historie stößt. Wichtig: Die Zukunftspfade müssen aus der realen Historie abzweigen, nicht aus dem Aktuellen Zustand! Die Teams dürfen hier auch einen Glücksfall erfinden, eine fiktives Ereignis, das absolut nicht absehbar war – der Autor Nassim Taleb nennt so etwas einen “Schwarzen Schwan”. - “Dystopischer Zukunftspfad” / Höllenpfad (mit orangenem Unglücksfall UF, im Englischen “Turning Points backwards from Hell”):
Wie beim Utopischen Zukunftspfad erstellen die Teams eine fiktive Historie – nur diesmal mit dem Schlimmsten beginnend. Auch hier dürfen sie einen “Schwarzen Schwan” erfinden, einen unvorhergesehenen Unglücksfall, auch hier beginnt die fiktive Historie im Pfad der realen Historie. Damit ist die Arbeit am Modell abgeschlossen. - Die Ergebnisse der anderen Teams kennen lernen: Die Teams wählen je einen Sprecher aus ihrer Mitte; die verbleibenden Mitglieder lassen sich das Modell der anderen vorstellen. Sie interviewen den Sprecher, um zu verstehen, welche Gemeinsamkeiten, Unterschiede und kritischen Ereignisse sie erkennen.
- Erkenntnisse zusammentragen: Nachdem alle Gelegenheit hatten, die anderen Modelle kennen zu lernen und zu vergleichen, bietet es sich an, die offensichtlichsten und wichtigsten Erkenntnisse zusammenzutragen und für alle sichtbar zu dokumentieren.
- Es bietet sich auch an, an dieser Stelle ein hochauflösendes Foto der Modelle anzufertigen – insbesondere, wenn diese danach wieder zerlegt werden.
Damit Sie den Ablauf besser nachvollziehen können, sehen sie in dem kurzen Video unten eine Animation, wie die Bestandteile zusammen kommen:
Welche Fragen kann man an die “Future Backwards”-Modelle stellen?
Die “Future-Backwards”-Modelle an sich sind noch keine Vision-Statements. Sie bieten aber viele Anhaltspunkte, welche Aspekte ein Vision-Statement berücksichtigen sollte. Sie sagen auch viel über die Teams aus, die die Modelle erstellt haben. Um hier in die Tiefe zu gehen, bietet es sich an, diese Blickwinkel einzunehmen:
- Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen den Teams bei der Einschätzung des Aktuellen Zustands?
- Was sind Schlüsselereignisse in der wahrgenommenen Historie zum Aktuellen Zustand? Welche Stakeholder und Kontextfaktoren tauchen hier an kritischen Stellen auf?
- Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden in der Beschreibung der Utopie erkennbar? Wie mutig sind die Gruppen? Was erhoffen sie sich?
- Was sind Schlüsselereignisse im Utopischen Zukunftspfad? Sind diese beeinflussbar oder nicht? Welche Stakeholder und Kontextfaktoren tauchen hier an kritischer Stelle auf?
- Welches Aktivitäten-Muster ist rund um den Punkt sichtbar, wo der Utopische Zukunftspfad aus dem Historischen Pfad abzweigt?
- Was sagt der Glücksfall, den die Gruppen im Utopischen Zukunftspfad erhoffen, über ihre Wünsche aus?
- Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden in der Beschreibung der Dystopie erkennbar? Was befürchten die Teams?
- Was sind Schlüsselereignisse im Dystopischen Zukunftspfad? Sind diese beeinflussbar oder nicht? Welche Stakeholder und Kontextfaktoren tauchen hier an kritischer Stelle auf?
- Welches Aktivitäten-Muster ist rund um den Punkt sichtbar, wo der Dystopische Zukunftspfad aus der Historie zum Aktuellen Zustand abzweigt?
- Was sagt der Unglücksfall, den die Gruppen im Dystopischen Zukunftspfad erhoffen, über ihre Befürchtungen aus?
Warum funktioniert die Methode?
- Die Modelle motivieren intensiven Austausch aus mehreren Perspektiven, sowohl innerhalb der Workshop-Teams als auch in der Gesamtgruppe.
- Indem die Historie als Erstes beschrieben und im Verlauf mit dem Utopischen und Dystopischen Pfad verbunden wird, ergeben sich spannende Anschlussfragen. Hier hat diese Methode einen deutlichen Vorteil gegenüber eher Rollenspiel-orientierten Verfahren, die ihren Schwerpunkt weniger auf die differenzierte Betrachtung legen.
- Indem die Historie rückwärts nachvollzogen wird, fällt es schwerer, “strategische Geschichtsfälschung” zu betreiben. Die Geschichten werden interessanter und vielfältiger.
- Die Modelle funktionieren als Landkarten und zeigen Muster im Großen, z. B. die Länge und Form der Historien, Anzahl der Karten im Aktuellen Zustand, Utopie und Dystopie, früheres oder späteres Einmünden der Zukunftspfade in den Historischen Pfad.
- Die einzelnen Haftnotizen-Sechsecke können im Anschluss auch abgehängt, gemischt und thematisch geclustert werden, z. B. um zu klären, welche Umstände direkt beeinflussbar sind und welche nicht, welche Themen sich wiederholen, oder zu welcher Cynefin-Domäne einzelne Geschichten gehören.
- “The Future, Backwards” aktiviert eine Workshop-Gruppe innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit und öffnet es, so dass in einem darauf folgenden Modul eine gemeinsame Vision formulierbar wird.
Um die Vision als solche sichtbar zu machen, bietet sich das Format der “Cover Story” an – die ist ähnlich einer Magazintitelseite gestaltet, auf der eine Workshop-Gruppe ihren zukünftigen Erfolg plakativ darstellt.
Wie das genau funktioniert, beschreibe ich in Teil 3 dieser Reihe.
Hinweis: The Cognitive Edge method used herein in whole or in part of a derived work is ©2012 Cognitive Edge (USA) Inc., is used under license agreement terms which can be found at http://cognitive-edge.com/about/user-agreement
– Ein Beitrag des ehemaligen Kollegen Sven Körber
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