Das Manifest des digitalen Humanisten

Das Manifest des digitalen Humanisten

Smarte Maschinen werden die Welt der Konsumenten weitgehend automatisieren können. Auf dem U.S. Symposium in Orlando sprach Gartners Vice-Präsident Richard Hunter eine Warnung aus: Firmen dürfen nicht vergessen, dass Kunden Menschen sind. Jenseits von technischer Machbarkeit rief er dazu auf, ein Manifest des digitalen Humanisten zu formulieren.

Man könnte das als ein weiteres Buzz-Word abtun. Erst bei einer genaueren Betrachtung hat sich mir die wahre Dimension erschlossen.

Zunächst einmal etwas Wortklauberei:

Gartner spricht nicht von einem digitalen Humanismus. Dadurch legt Gartner den Schwerpunkt auf eine handelnde Einzelperson, nicht so sehr auf eine Strömung, die sich einem menschlichen Gesellschaftsideal verschreibt. Im Englischen wiederum gibt es die “Digital Humanities” (Digitale Geisteswissenschaften), deren Protagonisten bisweilen auch als Digital Humanist bezeichnet werden. Diese sind nicht ebenfalls nicht gemeint.

Gartner hat die IT-Verantwortlichen im Visier und die Gefahr, sie mit technischen Möglichkeiten zu verführen. Wird jemand ver-führt, bringt man ihn auf einen anderen Weg. In diesem Fall: weg vom Menschen.

Gartner sieht folgende Prinzipien als essenzielle Teile des Manifestes des digitalen Humanisten:

1. Menschen gehören ins Zentrum

Jedes Design sollte zu aller erst den Menschen beobachten, weil dieser seine Anforderungen nicht kennt. Er teilt sich mit durch das was er tut.

Das ist das kleine Einmaleins des Servicedesigns. Unternehmen gestalten z. B. ihre Produkte und Services mithilfe konkret ausgestalteten Personas, die als prototypische Kunden ein Referenzpunkt darstellen.

2. Unvorhersehbarkeit umarmen

Wenn Organisationen neue Technologie verfügbar machen, müssen sie in der Lage sein, unvorhergesehenes Nutzerverhalten zu antizipieren.

Da wird es schon interessanter. Das Feedback des Nutzers (implizit durch Nutzungsverhalten, explizit durch Befragungen) fließt in die Weiterentwicklung ein – ein bewusster “Reality-Check”.

Anstatt Kunden in einen klassischen Kundenlebenszyklus zu zwängen, werden sie innerhalb eines Experience Continuums betrachtet. Das hat weitreichende Konsequenzen für die gesamte Organisation, die in der Lage sein muss das Feedback aufnehmen und verarbeiten zu können – egal von wo es kommt.

3. Persönlichen Raum respektieren

Das Bedürfnis nach Privatsphäre gehört über den gesamten Produktzyklus hinweg respektiert.

Respekt ist hier der zentrale Begriff.  Dieser kann mit Privacy by Design erreicht werden, z. B.:

  • Alles ist Opt-In
  • Das gespeicherte Kundenprofil ist transparent für den Kunden
  • Nur Information für die Personalisierung nutzen, die der Nutzer mit Ihnen teilt
  • Sensible Situationen identifizieren
  • Die “goldene Regel” anwenden: Wie wollen Sie als Kunde, Bürger und Mensch behandelt werden?

Und jetzt?

Zunächst war mir nicht klar, ob es nicht schon selber das Manifest darstellt – da es wie eines klingt. Gartner spricht hier aber von Prinzipien und ruft dazu auf, selbst eines zu erarbeiten.

Diese Sichtweise teile ich nicht.

Wenn sich ein IT-Verantwortlicher als digitaler Humanist versteht, wird er auf der Basis der drei Prinzipien konkrete Entscheidungen (also Aktivitäten) ableiten. Diese können sein:

  • Entwicklung von Produkten und Services mit den Methoden des Service Designs – dafür muss er befähigte Mitarbeiter haben oder einstellen.
  • Das Nutzerverhalten nach einer Einführung kann nur analysiert werden wenn entsprechende technische Möglichkeiten und Vorgehensweisen vorhanden sind. Diese gilt es einzuführen und zu nutzen. Wenn Nutzer sich dem ursprünglich angedachten Zweck widersetzen, muss es als eine Chance verstanden werden – nicht als ein Scheitern. Das muss die Firmenkultur unterstützen können.
  • Die Möglichkeiten und Grenzen von Privatsphäre sind abhängig vom jeweiligen Produkt und den involvierten Services. Das Manifest muss top-down, in den verschiedenen Unternehmensbereichen (Entwicklung, Service, Webseite) zu konkreten Entscheidungen und Aktivitäten führen.

Ich kann mir zwischen den oben genannten drei Prinzipien und den Konsequenzen für die jeweilige Organisation keinen weiteren sinnvollen Schritt vorstellen, der das Wort Manifest verdient hätte.

Die drei Prinzipien sind für mich bereits das Manifest.

Der digitale Humanist und seine Mitarbeiter

Richard Hunter legt in der Keynote seinen Fokus auf das Kundenerlebnis:

“Business moments are human moments”

Disruptive Technologien wie Cognitive Computing werden zusätzlich einen massiven Einfluss auf Organisationen haben: Während des gleichen Gartner-Symposiums ging Peter Sondergaard davon aus, dass ein Drittel des Personals durch Software und Roboter ersetzt werden wird.

Das scheint unvermeidbar zu sein. Es ist die logische Konsequenz der fortschreitenden industriellen Entwicklung – egal ob Maschinen oder Software involviert sind. Mithilfe zunehmender Automatisierung (oder Off-Shoring) wird mehr in besserer Qualität und zu einem günstigeren Preis produziert.

Kognititive Systeme zum Beispiel werden in Zukunft eine Gefahr für bisher unersetzlich angesehene Jobs darstellen.

Eine politische Antwort sehe ich nicht in greifbarer Nähe. Die logischen Konsequenzen dieser Entwicklung werden nicht gesehen oder ignoriert: Bundesweit sind bereits heute mehr als 40 Prozent aller Jobs keine Normalarbeitsverhältnisse – bestehen also aus Teilzeit-, Minijobs oder Leiharbeit. Die Tendenz geht eher in Richtung mehr als weniger sogenannter atypischer Arbeitsverhältnisse. Wirtschaftsexperten sehen das zunehmend als eine Gefahr für den Standort Deutschland, da dadurch die Binnennachfrage sinkt: Konsum muss Bürger sich leisten können.

Vom Produktivitätszuwachs profitieren die Unternehmen und deren Shareholder, nicht die Arbeitnehmer.

Daher sind es die Unternehmen (oder in nostalgischer Sichtweise: die Unternehmer), die für eine Balance zwischen Automatisierung und Arbeitsplatzerhaltung verantwortlich sind. Der “totale Self-Service” ist zwar möglich, aber vielleicht nicht nötig.

Deswegen gehört für mich ein vierter Punkt in ein erweitertes Manifest des digitalen Humanisten:

ERWEITERTES MANIFEST DES DIGITALEN HUMANISTEN

1. Organisationen bestehen aus Menschen

Digitale Technologien können Menschen funktional ersetzen, aber nicht in Bezug auf deren Empathie, Engagement und Kreativität. Sie helfen die Arbeitsplatzqualität zu verbessern und stärken den Mitarbeiter in seinen menschlichen Qualitäten.

2. Menschen gehören ins Zentrum

Jedes Design sollte zu aller erst den Menschen beobachten, weil dieser seine Anforderungen nicht kennt. Er teilt sich mit durch das was er tut.

3. Unvorhersehbarkeit umarmen

Wenn Organisationen neue Technologie verfügbar machen, müssen sie in der Lage sein, unvorhergesehenes Nutzerverhalten zu antizipieren.

4. Persönlichen Raum respektieren

Das Bedürfnis nach Privatsphäre gehört über den gesamten Produktzyklus hinweg respektiert.

Nur so ist für mich ein Manifest des digitalen Humanisten sinnvoll. In dieser Form wird es aber nicht der CIO allein sein, der das Manifest zu vertreten und top-down umzusetzen hat. Es ist ein Manifest, das für mehrere Manager eines Unternehmens auf C-Level relevant ist. Sie alle verpflichten sich einem nachhaltigen und menschenzentrierten Umgang mit digitalen Technologien – mit Wirkung nach Außen und nach Innen. Das wiederum hat der CEO sicherzustellen, nicht der CIO, wie von Richard Hunter angenommen.

Foto: unsplash (Joshua Earle)

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