Zweckentfremdung als Mutter der Innovation (Komplexität, Teil 2)

Zweckentfremdung als Mutter der Innovation (Komplexität, Teil 2)

 

Stellen Sie sich vor, es ist 1939 und ein Grundlagenforscher in Ihrem Unternehmen steht vor einem Radargerät. Während dieses läuft, schmilzt ihm der Schokoladenriegel in der Tasche. Würden Sie merken, dass Sie den technologischen Kern von Mikrowellen-Öfen gefunden haben? Und könnten Sie finanziell davon profitieren? Stellen Sie sich vor es ist 1974, und einer Ihrer Mitarbeiter ärgert sich darüber, dass ihm ständig die Lesezeichen aus seinen privaten Gesangs-Notenbüchern fallen. Er nutzt daher das sechs Jahre alte, bisher durch und durch erfolglose Superkleber-Experiment eines Kollegen, um diese anzuheften. Würden Sie merken, dass jemand gerade in Ihrem Unternehmen die Urform von Post-Its erfunden hat?

(Dieser Beitrag fußt auf einem vorangehenden; dort habe ich die Begriffe und Konzepte aus dem Cynefin-Framework von Cognitive Edge eingeführt.) Diese beiden realen Beispiele illustrieren, dass Innovationen häufig ungeplant daherkommen. Sie resultieren aus Fehlern und hätten kaum Schritt-für-Schritt geplant werden können. In der Evolutionsbiologie gibt es dafür den Begriff der „Exaptation“, einer Art Zweckentfremdung. Das klassische Beispiel dort ist die Entwicklung der Feder im Vogelflug. Federn hatten sich nur zum Warmhalten und als Schmuck entwickelt – von Baum zu Baum zu gleiten ergab sich danach als nützliche Nebenwirkung. Diese Nebenwirkung war bekannterweise evolutionär sehr nützlich. Für alle, die sich innovatives Vorgehen auf die Fahnen geschrieben haben, ergibt sich daraus ein Widerspruch. Sei es nun bahnbrechend wie das oben genannte oder deutlich beschränkter in seiner Tragweite: Wie plant man das Unplanbare? Wie schafft man die Grundlagen für produktive Zweckentfremdung?

Wie man Innovation im Keime erstickt

  • Eine homogene Gruppe anerkannter Inhaltsexperten zusammenbringen. Hier greift dann das sogenannte “Entrainment” – wer sich Jahre lang tief in ein Gebiet hineingearbeitet hat, ist hirnphysiologisch benachteiligt, Querverbindungen schlagen zu können.
  • Diese Experten gemeinsam einen Fünfjahres-Innovationsplan aufstellen lassen. Exaptation in der komplexen Domäne liebt Modularität, und ein monolithischer Plan verhindert es, schnell die Richtung zu ändern (“pivoting” in Silicon Valley-Sprache), oder Bestandteile neu zusammenzusetzen, wie es gerade passt.
  • Einen Haufen Rechercheure darauf ansetzen, um zu recherchieren, was „Best Practice“ im Markt ist. Wer sich zu sehr mit dem Markt synchronisiert, produziert keine klar identifizierbaren Alleinstellungsmerkmale. In der komplexen Domäne führt Best Practice nicht in die Zukunft, sondern zementiert die Vergangenheit.
  • Umfragen in Auftrag geben, die die Wünsche der Zielgruppe direkt quantifizieren. Nach Bedürfnissen nur zu fragen, führt nicht zu neuen Erkenntnissen. Experimente mit realen Prototypen durchzuführen ist schon gut, und Verhalten daran zu beobachten ist noch besser.
  • Inhaltliche Abweichungen zu den vorab klar definierten Zielen des Fünfjahresplans scharf bestrafen. Konformitätsdruck und Unsicherheit darüber, wie weit man sich aus dem Fenster lehnen darf, schränken die Kapazität zur Umweltbeobachtung ein.

Wenn es so nicht geht, wie dann?

Zuallererst gilt es, sich bewusst davon zu verabschieden, dass Innovation ein im Cynefin-Sinne komplizierter Vorgang wäre. Man kann das Ziel nicht einfach definieren und dann Schritt für Schritt darauf zuarbeiten. Das ist ein Merkmal strukturierter Bereiche. Es gibt eben keine gute oder beste Praxis, nur innovative (chaotisch) oder entstehende (komplex). Einige Aspekte, die sich als produktiv für Innovation herausgestellt haben:

  • Nicht alles auf eine Karte setzen, sondern eine handvoll kleiner, paralleler, risikoarmer Experimente durchführen. Dabei auch naive und kontra-intuitive Vorschläge von Fachfremden berücksichtigen. Denken Sie wie ein Investor, der sein Startup-Portfolio verwaltet: Einige werden bestimmt scheitern, dafür wirft hin und wieder eines mal großen Gewinn ab.
  • Das Scheitern von Experimenten als Ausgangspunkt verstehen. Sie haben dadurch etwas über das System gelernt, in dem Sie sich bewegen. Wenn Sie nicht scheitern, haben sie sich nicht weit genug aus dem Fenster gelehnt! Fehlschläge auf keinen Fall negativ sanktionieren, sondern lieber schnell, häufig und interessant scheitern.
  • Expertise- und Senioritäts-Unterschiede im Innovations-Team soweit erhöhen, dass es für die Teilnehmer gerade noch auszuhalten ist. Wenn ihr Unternehmen in der Expertise zu homogen ist, sollten Sie erwägen, auch Kunden, Partner und Endkunden mit hinein zu holen.
  • Experten immer wieder aus ihrer inhaltlichen Komfortzone drängen, indem sie unter hohem Druck ein komplett anderes Thema bespielen, ggf. auch in einer anderen physischen Umgebung.
  • Die Innovationsgruppe und ihr Umfeld so stark miteinander vernetzen, dass jeder maximal 2-3 Freiheitsgrade voneinander entfernt ist. So fällt es der Gruppe leichter, Informationen zusammen zu ziehen und ggf. auch einmal unerwartete Verbindungen zu schlagen.

Als derjenige, der das Innovations-Team betreut, sollten Sie sich wie ein Innovationsgärtner verstehen, der das Innovations-Ökosystem pflegt. Verabschieden Sie sich von der Ambition, vorab einen genialen Fingerzeit in der Vorhersage-Glaskugel zu sehen. Trainieren Sie lieber Ihre Offenheit, damit Sie das evolutionäre Potenzial des Moments nicht verpassen. Bei brightONE nutzen wir verschiedene Methoden, um Unternehmen in der Startphase innovativer Projekte zu unterstützen; von Lego Serious Play-Workshops bis zum Storytelling mit Personas und Customer Journey Maps. Wenn Sie Fragen oder Anregungen zu diesem Thema haben, freue ich mich über Kommentare.

– Ein Beitrag des ehemaligen Kollegen Sven Körber

Bildnachweis: Wikimedia

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