Vertreibung aus dem Luftschloss – Kundenservice-Innovation mit Effectuation auf die Straße bringen

Vertreibung aus dem Luftschloss – Kundenservice-Innovation mit Effectuation auf die Straße bringen

Dieser Artikel erschien zuerst im Blog der i-Service-Initiative.

Sie kennen sicher die typische Themenkarriere: Eine neue Technologie erscheint auf der Bildfläche, und es widerhallt gewaltig in den medialen Echokammern. Aus Startup-Zirkeln und Unis der Welt zu Twitter und Reddit, in die Technikblogs, in die Mainstream-Qualitätsmedien, auf die Bühnen des Konferenzzirkus, auf die Agenden firmeninterner Innovationszirkel und die Foliensätze der Beratungshäuser – auch im Kundenservice.

Ein Thema ist gesetzt und gebiert Projekte: Internet-of-Things-Sensoren zum Beispiel machen Kundenservice smarter, Augmented-Reality-Brillen wiederum immersiver und hyper-connected und die emotionalen Regungen eines Endkunden werden natürlich mittels Gesichtserkennung analysiert. Herzlich willkommen im Babylon der Digitalen Transformation!

Das ist alles spannend, keine Frage. Aber was tun, wenn solch eine abgefahrene Idee in Ihrem Schoß landet? Wie entscheiden Sie, ob das eine rettende oder eine Schnapsidee ist? Verbrennen Sie sich an solch einem heißen Eisen die Finger, oder schmieden Sie daraus eine neue Sprosse Ihrer Karriereleiter?

Die folgenden drei Prinzipien bieten Ihnen Orientierung.

PRINZIP 1: ES FÜHRT ZU NICHTS, EIN INNOVATIONSPROJEKT MIT REINEM TECHNIKFOKUS ZU STARTEN.

Wenn sie mit einer Antwort auf die Was- und Wie-Frage starten, wird Ihnen der Projektbudgethahn nach ein paar explorativen Schritten wieder zugedreht. Sie brauchen nämlich besser früher als später Antworten auf diese Fragen:

  • Wer hat hier einen prägnanten Job-To-Be-Done, also ein wirkliches Interesse an der Lösung, und was sind die Bedürfnisse, die dahinterstehen?“
  • Wen muss ich überzeugen, und für welche Argumente ist er zugänglich?“
  • Wo docke ich an bestehende Initiativen an – intern wie extern?“

Gute Orientierung gibt das Businessmodel-Canvas der Münchner Beratung Orange Hills. Ich empfehle auch einen Blick auf Forresters POST-Ansatz für Innovationen. Das Akronym setzt sich aus People -> Objectives -> Strategy -> Technology zusammen und stellt die Stakeholder-Perspektive klar an erste Stelle.

PRINZIP 2: JE NEUARTIGER DAS PROJEKT, DESTO WENIGER BEST PRACTICE GIBT ES, UND EXPERTEN FÜHREN IN DIE IRRE.

Sie können in diesem Fall nicht erwarten, dass es genügt ein Ziel vorzugeben, es in Schritte herunter zu brechen und es dann stringent abzuarbeiten. Es wäre sogar fatal, den Blickwinkel derart einzuschränken, denn Sie müssen überraschungsfähig bleiben und glückliche Zufälle erkennen. Wenn Sie einer reinen Experten-Haltung nachgeben, verlieren Sie sich in Analysezyklen und reproduzieren nur das Expertenwissen der Vergangenheit.

Aber wie plant man etwas, dessen Ziel man nicht kennt? Und wie weiß man, in welche Richtung man laufen soll, wenn es keine Experten gibt, die das Ziel sicher bestimmen können? Die Antwort kommt aus der Unternehmer-Forschung:  Effectuation, die der Autor und Berater Michael Faschingbauer im deutschsprachigen Raum vertritt:

  • Erfolgreiche Unternehmer starten mit den Ressourcen, die sie haben, machen dann einen ersten Schritt und bewerten daraufhin ihre Situation neu.
  • Sie fragen sich zu Beginn nicht: Wie hoch muss ich mich verschulden, um in drei Jahren in genau dieses Luftschloss einzuziehen? Sie fragen sich: Was bin ich bereit, aktuell einzusetzen, um den nächsten Schritt zu machen und etwas Wertvolles dabei zu lernen?
  • Sie schauen in ihr Umfeld, und schmieden Allianzen mit Mitstreitern, die ihren leistbaren Verlust mit in die Waagschale werfen.

PRINZIP 3: MIT EINER REIHE GEZIELTER EXPERIMENTE LERNEN SIE UND IHRE STAKEHOLDER ÜBER MATERIE UND KONTEXT, UM SELBSTBEWUSST DEN NÄCHSTEN SCHRITT TUN ZU KÖNNEN.

Es gibt immer Aspekte, die sich aus vergleichbaren Situationen übertragen lassen. Und es gibt Fragen, die sich so noch niemand gestellt hat. Die wichtigsten und folgenreichsten davon gilt es zu benennen und zu beantworten – mit so wenig Aufwand wie möglich.

Ich empfehle, diese Haltung einzunehmen: „Ich weiß noch gar nicht, was ich nicht weiß, deshalb lote ich die Domäne auf vielerlei Weise aus.“ Widersprüchliche und naive Fragen – auch gegen die eigene Intuition – helfen in diesen Situationen weiter!

Im Englischen gibt es den schönen Begriff fail-forward, zu Deutsch etwa: „vorwärts scheitern“. Ein ganz zentraler Punkt: Sie experimentieren nicht, um sich gegen das Scheitern abzusichern (englisch: fail-safe). Stattdessen machen Sie Experimente, die fehlschlagen können, ohne dass sie Schaden anrichten. (englisch: safe-to-fail). Es entsteht schlimmstenfalls ein leistbarer Verlust. Wenn ein Experiment fehlschlägt, haben Sie etwas gelernt, das Sie bisher nicht wussten – sonst hätten Sie es ja gar nicht erst aufgesetzt. Ihr Wissen nimmt zu, die neue Wissensdomäne nimmt vor Ihren Augen Formen an. Grund zu feiern!

Zu diesem Zweck können Sie z. B. Prototypen bauen, Nutzerforschung betreiben und das Gelernte einarbeiten, bis Sie sicher sind, dass Ihre Fragen schlüssig beantwortet sind.

Ihr Minimum-Viable-Product kann für manche Experimente hinter den Kulissen mit der heißen Nadel gestrickt oder schlicht simuliert sein – wenn Sie ihre experimentelle Fragestellung mit seiner Hilfe schlüssig beantworten, hat es seine Schuldigkeit getan! Verwechseln Sie nicht den Experimentalgegenstand mit dem Produkt.

WIE SIEHT DAS IN EINEM REALEN PROJEKT AUS?

Ein Beratungsprojekt mit einem großen Mobilfunkunternehmen startete im vergangenen Jahr mit dem Wunsch, Cognitive-Computing im Kundenservice zu platzieren und als Innovationsthema intern voran zu bringen.

In einem moderierten Beratungsprozess richteten wir den Blick zunächst auf die beteiligten Nutzergruppen, Ihre Jobs-to-be-done und die interne Stakeholder-Konstellation (beim Anwender starten, Prinzip 1).

Wir lernten einen neuen technischen Partner kennen, den der Kunde ins Spiel brachte, und der im Rahmen eines Proof-of-Concept bereit war, die Initiative zu unterstützen (Effectuation, Prinzip 2).

Wir definierten ein gemeinsames Minimum Viable Product, das uns zu überprüfen erlaubte, ob Contactcenter-Agenten in einer speziellen Domäne schneller redefähig und damit zufriedener werden. Gleichzeitig stand kein großes Implementierungsprojekt auf dem Spiel (Experimente wagen, Prinzip 3).

Zur Überprüfung standen diese Fragen:

  1. Ist die eingesetzte Konzeptsuche-Technik geeignet, die Daten aus der Service-Community zu schlüssigen Ergebnissen zu bündeln? Methode: Proof-Of-Concept.
  2. Werden die Agenten effizienter und zufriedener bei der Suche nach verwandten Tickets, die in einer Dashboard-Ansicht aller Informationsquellen gezeigt werden? Methode: Qualitativer und quantitativer User-Experience-Test.
  3. Verkürzt sich die Average Handling Time eines Telefongesprächs zu einem Support-Ticket, wenn die Agenten das neue System nutzen, und wenn ja: wie sehr? Methode: Qualitativer und quantitativer User-Experience-Test.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die genannten drei Prinzipien in dem Projekt auf fruchtbaren Boden fielen. Deren konsequente Anwendung sorgte für ein nachhaltiges Commitment der Beteiligten, guten Team-Spirit und Sichtbarkeit des Projektes innerhalb des Unternehmens. Abgeschlossen ist es noch nicht. Gelernt wurde jede Menge

– Ein Blogartikel unseres ehemaligen Kollegen Sven Körber!

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