Der Moment der Wahrheit im Service

Der Moment der Wahrheit im Service

Berlin, 20.Juni 2013. Der Abendflug nach München steht unter keinem guten Stern. Nach einem auf 36 Grad überhitzten Arbeitstag wartet eine ungeduldige Meute in der völlig überfüllten Abflugzelle auf das Boarding, als etwas Ungewöhnliches passiert: Anstatt der freundlichen Bodenpersonal-Mitarbeiterin steht der Flugkapitän persönlich am Terminal und beginnt eine kurze Ansprache.

Der Kunde – Freund oder Feind?

Millionen haben Firmen in IT-Systeme, in Mitarbeiterschulung und Marketing gesteckt, um uns Kunden an sich zu binden, den Service zu verbessern und gleichzeitig zu verschlanken, doch ein unvorhergesehener Moment kann das Alles in Frage stellen: der „Moment of Truth“, an dem sich die Wege verzweigen, an dem sich alles entscheidet. Der Kunde ist in diesem Augenblick tief emotional betroffen von Prozessen, die entweder überraschend gut oder aber gar nicht funktionieren. Jetzt entscheidet sich, ob er ein treuer Gefolgsmann (oder eine treue Gefolgsfrau) des Unternehmens wird oder zum erbitterten Gegner, der seine Familie, Freude und Follower mit allen Mitteln davon abhalten wird, jemals wieder Dienste des verhassten Unternehmens in Anspruch zu nehmen.

Der Captain hat keine guten Nachrichten. Der Wetterbericht wäre sehr problematisch, wir würden in die Maschine einsteigen, müssten dann aber damit rechnen, nicht mehr rechtzeitig abzuheben, um die strikte Nachtflugregelung am Münchner Flughafen einzuhalten. Kurz nachdem wir unsere Sitze eingenommen haben, geht es dann auch schon los: Ein Sommersturm geht über dem Flughafen Tegel nieder und rüttelt an unserem Flieger. Glücklicherweise gibt es aber bald gute Nachrichten: Der Himmel klart kurz auf und wir haben eine Starterlaubnis. Zudem toleriert München unseren späten Anflug um 0:30 Uhr.

Das Effizienz-Prinzip

Das Problem, das viele Firmen im Kundenservice haben, ist ein Vielfältiges, aber meist auf ein einfaches Prinzip zurückzuführen: Das Unternehmen ist effizienzgetrieben, d. h. alle Prozesse wurden über Jahre in sich optimiert, greifen aber nicht ineinander. Marketing, Vertrieb, Kundenservice, Produktion, IT führen ein Eigenleben, sind aber nicht verzahnt.

Wir nähern uns nun dem traurigen Höhepunkt unserer kleinen Geschichte: Ein Flieger voller hoffnungsfroher Reisender steht im Stau. Eine Reihe von Maschinen hat bedingt durch die Wetterkapriolen an diesem Donnerstag auf einen neuen Abflugslot gewartet. Die Uhr rückt vor Richtung Mitternacht und unser Abflugslot verstreicht ungenutzt. Wir rollen auf eine Parkposition zurück und warten weitere 30 Minuten, bis sich eine Gangway und ein Bus finden, die uns zurück ins Terminal bringen.

Hier wartet nun eine weiter unerfreuliche Überraschung auf uns: Im Gegensatz zu den anderen Airlines, die ihre gestrandeten Passagiere in Durchsagen zu der Vergabe der Hotelbetten und der Umbuchung der Flüge lotsen, hat unsere Linie ihre Schalter schon geschlossen. Einzig eine überforderte Mitarbeiterin verteilt kaum lesbare Hinweisblätter, in denen sie hektisch von Hand die Telefonnummern eines Hotelportals ausbessert. Mir drängt sich der Eindruck auf, sie wurde bei der Flucht ihrer Kollegen vergessen, so verzweifelt versucht sie, dem Drängen der frustrierten Kunden ihre hoffnungslose Lage entgegenzusetzen.

Grenzen des elektronischen Self-Service

Nicht viel besser sieht es aus, auf elektronischem Weg, die Nöte des gestrandeten Passagiers zu lindern: Einer Umbuchung über die Hotline steht die Warteschlange im Weg, der ich nach 50 Minuten wieder entfliehe. Gegen 2 Uhr morgens erreicht mich eine SMS mit einem Link zur Umbuchung. Doch auch dieser Weg widerspricht den Grundsätzen der IT-Systeme des Unternehmens, dem ich mich anvertraut habe: Eine Umbuchung mit dem Buchungscode eines Flugs, den ich ja schon mal bis zum Rollfeld wahrgenommen habe, führt zu einem unerwarteten technischen Fehler.

Dies ist dann der ultimative, emotionalste Zeitpunkt, der „Moment of Truth“, der mir zeigt, welche Wertschätzung mir, dem Kunden, entgegengebracht wird: Eine absehbare Ausnahmesituation, die wohl in dieser oder ähnlicher Form, täglich auf irgendeinem Flughafen der Welt vorkommt, ist nicht Teil der Prozesse dieses Unternehmens – keine Betreuung am Flughafen, mangelhafte Umsetzung der Umbuchung in der IT-Landschaft, fehlende Kommunikation. In diesem Moment entscheidet sich, was ich und meine ca. 60 Mitreisenden von diesem Unternehmen für lange Zeit als Eindruck mitnehmen und – wie man hier sieht – potenziert sich dieser Eindruck im persönlichen und beruflichen Umfeld der Betroffenen, in Blogs und den sozialen Medien.

Photo by cal gao on Unsplash

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